Mittwoch, 14. September 2011

Der Geschichtsaufsatz für Wagemutige

Falls du je die Gelegenheit oder Notwendigkeit hast, einen Geschichtsaufsatz zu schreiben und vorzustellen - oder ein Referat, Diskussionsthema - so habe ich einen kühnen Themenvorschlag für dich (wäre vielleicht auch für andere Fächer wie Politik, Sozialwissenschaften, Ethik, Philosophie oder Religion interessant): Schreibe, erzähle oder diskutiere doch einmal über Die Geschichte des Schulzwangs.

Ein bisschen Mut gehört schon zu diesem Thema - aber ich glaube, es gibt kein besseres und aktuelleres Thema für einen Schulaufsatz als dieses, da es dich und die Menschen um dich herum unmittelbar betrifft - tagtäglich.
Ich werde etwas über die Geschichte des Schulzwangs erzählen. Eine wichtige Literaturquelle, aus deren Inhalt ich etwas vorstellen werde, ist ein Artikel mit dem Titel "Warum Bildungsfreiheit?" von Rahim Taghizadegan.

Warum Geschichte "des Schulzwangs" und nicht "der Schulpflicht"? Taghizadegan beschreibt sehr schön den Unterschied zwischen den Begriffen "Pflicht" und "Zwang".
Pflicht wurde ursprünglich im Deutschen auch als Synonym für "Gemeinschaft" oder "Teilhabe" verwendet. Eine Pflicht ist ein "Gebot, dessen Einhaltung für das Bestehen einer Gemeinschaft wesentlich ist." Voraussetzung dafür, eine Pflicht erfüllen zu können, ist, dass ich auch die Möglichkeit habe, mich anders zu verhalten, dass ich also wählen kann, wie ich mich verhalten will.

Beim Zwang habe ich nicht die Wahl, er schränkt meinen Handlungsspielraum ein und ich habe nicht "die Möglichkeit zur Ausübung einer moralischen Pflicht".

Haben Schüler in Deutschland die Möglichkeit, die Schulpflicht zu erfüllen? Und was passiert, wenn sie wählen und sich "anders verhalten"?

Aber zur Geschichte:

Das historisch gesehen "erste und wichtigste Argument gegen Bildungsfreiheit" ist ein Religiöses.
Es wurde 1524 von Martin Luther vorgebracht. Dieser forderte damals deutsche Bürgermeister und Ratsherren auf, "christliche Schulen" zu errichten. Er bezeichnete katholische Schulen als "Eselsställe und Teufelsschulen", welche im Abgrund versinken sollten, und die Katholiken als "Kinderfresser und Verderber".  

"Da werden tagtäglich Kinder geborn und wachsen bei uns daher und ist leider niemand, der sich des armen jungen Volks annehme und regiere, da läßt man's gehen wie es gehet."

Das durfte nicht sein und eine Monopolisierung des Schulsystems sollte dafür sorgen, dass alle Schüler vor den Kinderfressern und Verderbern gerettet werden, denn "nicht geringer ist es, einen Schüler versäumen, denn eine Jungfrau [...] oder Weiber schänden".

Noch im selben Jahr (1524) gab es die ersten staatlichen Einheitsschulen in Gotha und kurz darauf in ganz Thüringen. 1559 wurde in Württemberg die allgemeine Schulpflicht - allerdings nur für Jungen - eingeführt (von der Kirche durchgeführt bestand Unterricht damals zunächst hauptsächlich aus dem Einüben von Kirchenliedern und Gebeten. Lesen, Schreiben und Rechnen waren noch nicht so wichtig). 1592 wurde dann im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken als erstem Territorium der Welt die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt.

Auch heute noch spielt die Religion in der Argumentation gegen Bildungsfreiheit eine Rolle, wobei es dabei eher um eine Trennung von Religion und Staat geht. Die Botschaft ist nun "Du darfst nur an einen Gott glauben, nämlich - keinen, d.h. den Menschen, d.h. den Staat." (Taghizadegan)

Das religiöse Argument wurde im 19. Jhgt. von einem Militärischen abgelöst.
Hierzu zitiere ich ebenso wie Taghizadegan aus Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation von 1808: "Dagegen würde der Staat, der die von uns vorgeschlagene Nationalerziehung allgemein einführte, von dem Augenblicke an, da ein Geschlecht der nachwachsenden Jugend durch sie hindurch gegangen wäre, gar keines besonderen Heeres bedürfe, sondern er hätte an ihnen ein Heer, wie es noch keine Zeit gesehen. Jeder einzelne ist [...] zur Ertragung jeder Anstrengung und Mühseligkeit gewöhnt, [...] in seinem Gemüthe lebt die Liebe des Ganzen, dessen Mitglied er ist, des Staats und des Vaterlands, und vernichtet jede andere selbstische Regung."

Verfolgt die Schulerziehung heute immer noch die gleichen Ziele (?): Vorgeben, was gelernt werden darf; alle das Gleiche lehren; jeder gewöhnt sich daran, Anstrengung und Mühseligkeit zu ertragen; das Ganze zählt (Konformität, Anpassung); Vernichtung jeder "selbstischen Regung" (Individualität, Anderssein, Andersdenken, Sich-für-anderes-als-den-Lehrplanstoff-interessieren, Kreativität, Selbstentfaltung, freies Denken und Sprechen, Aufs-Klo-gehen-ohne-zu-fragen).

Die National-Sozialisten ließen sich sehr von Fichtes Ideen inspirieren und mit dem Reichsschulpflichtgesetz wurde 1938 der bis heute geltende Bildungszwang eingeführt (Bildungszwang, da es seitdem eine "Schulpflicht" gibt, und nicht mehr eine "Unterrichts- oder Bildungspflicht", d.h. Bildung kann und darf NUR in der SCHULE stattfinden - kann sich jemand von euch überhaupt vorstellen, dass Bildung, die wir für's Leben brauchen, außerhalb der Schulmauern stattfindet?). 

Der Staat wollte einst ein folgsames Heer und zu Beginn des Industriezeitalters brave Fließbandarbeiter. Auch das waren einst Argumente für eine einheitliche, vorgegebene Beschulung. Gelten diese ganzen Argumente heute noch?

In einem heute erschienenen Artikel "Erklär mir die Welt (73): Warum ist die staatliche Schulpflicht unnötig" wird der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin zitiert: Ursprünglich war der Schulzwang nicht die Regel, sondern die Ausnahme. "Die Schulpflicht wurde eingeführt, weil die bildungsfernen Schichten ihre Kinder zu Hause behielten und zum Kartoffelausbuddeln und Getreideernten gebrauchten".

Jesper Juul, ein bekannter und geschätzter dänischer Familientherapeut und Autor, sagt in einem Interview:
In Deutschland, wie auch in Skandinavien, leben unsere Kinder genau 26.000 Stunden ihrer Kindheit in pädagogischen Zwangsanstalten, also Kinderkrippen, Schulen etc. – so ist das! Sie leben den größten Teil ihres Lebens unter Zwang. Und ich verstehe nicht, warum wir nicht sagen, »Liebe Kinder, Schulzwang war früher notwendig, denn sonst hätten eure Eltern euch nur deshalb nicht in die Schule geschickt, weil sie euch als Arbeiter brauchten. Das ist 125 Jahre her, und jetzt ist das nicht mehr so. Jetzt, liebe Kinder, habt ihr Schulunterrichtungsrecht, herzlichen Glückwunsch!« Das würde die Beziehung zwischen Schule und Schülern grundsätzlich ändern!
Aber damit sind wir nicht mehr bei der Geschichte, sondern bei der Diskussion um den Sinn und Unsinn des Schulzwangs - das Thema für den nächsten Aufsatz.

Mehr Infos
"Das deutsche Schulsystem. Entstehung, Struktur, Steuerung" - Eine Studie
"Geschichte des Schulzwangs in Deutschland"
"Kurze Geschichte der allgemeinen Schulpflicht"
Weimarer Reichsverfassung 
Wikipedia

Gedanken einer "Schulhasserin"

"Als ich noch zur Schule ging, wurde ich oft gefragt, ob es mir gefiele. Manchmal sagte ich ja, manchmal nein. Allerdings dachte ich...