Samstag, 8. Dezember 2012

"Animal School" - Die Weisheit einer Tierfabel

Inspiriert durch die Geschichte "The Animal School" von George H. Reavis, welche in verschiedenen, abgewandelten Versionen zu finden ist, habe ich mich zu einer weiteren, abgewandelten Version dieser Geschichte hinreißen lassen:

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Eines Tages entschieden die Tiere, etwas Heldenhaftes müsse getan werden, um den Problemen einer "neuen Welt" zu begegnen - und so erschufen sie eine Schule. Sie mussten ein Curriculum entwerfen, welches jeden zufriedenstellen sollte, so wählten sie vier Fächer: Rennen, Klettern, Schwimmen und Fliegen. Um das Curriculum am leichtesten handhaben zu können, nahmen alle Tiere an allen Fächern teil.



Die Ente war eine exzellente Schwimmerin, sie war tatsächlich sogar besser als ihr Lehrer. Aber sie erreichte nur mittelmäßige Noten im Fliegen, war sehr schlecht im Rennen und ein hoffnungsloser Fall im Klettern. Da sie beim Rennen so langsam war, musste sie nach Schulschluss noch dableiben und sogar das Schwimmen sausen lassen, um Rennen zu üben. Nach einer Weile waren ihre Schwimmfüße so abgenutzt, dass sie im Schwimmen nur noch mittelmäßig war. Aber Mittelmaß war in der Schule akzeptabel, daher sorgte sich niemand deswegen, mit Ausnahme der Ente.

Das Eichhörnchen war hervorragend im Klettern, bis es sehr frustriert wurde durch die Flugstunden, in denen der Lehrer von ihm verlangte, vom Boden aufwärts zu starten anstatt von der Baumspitze abwärts. Es bekam schlimmen Muskelkater von der Überanstrengung und schließlich nur noch 3en im Klettern und 4en im Rennen.

Der Adler war ein Störenfried und wurde streng diszipliniert. Im Kletterunterricht schlug er jeden, wenn es darum ging, am schnellsten auf eine Baumspitze zu gelangen, aber er bestand auf seiner eigenen Methode, um dorthin zu gelangen, die gegen die Regeln verstieß. Er musste immer nach der Schule noch da bleiben und fünfhundert Mal schreiben: "Mogeln ist falsch".

Der Bär fiel durch, weil alle sagten, er sei faul, besonders im Winter. Seine beste Zeit war im Sommer, aber dann waren Ferien.

Der Hund wurde diszipliniert, weil er während des Unterrichts einschlief.

Das Zebra schwänzte sehr oft die Schule, weil die Ponys sich immer über seine Streifen lustig machten - und das machte es sehr traurig.

Das Känguruh war einer der Besten im Rennen, wurde aber sehr entmutigt, als von ihm verlangt wurde, auf allen Vieren zu laufen wie seine Klassenkameraden.

Der Fisch verließ die Schule, weil er gelangweilt war. Für ihn waren alle vier Fächer gleich, aber niemand konnte das verstehen. Sie waren halt alle keine Fische.

Aber die Biene war das größte Problem von allen, daher schickte sie der Lehrer zu Dr. Eule zur Diagnostik. Dr. Eule sagte, die Flügel der Biene seien zu klein zum Fliegen und seien zudem an der falschen Stelle. Aber die Biene las Dr. Eules Befundbericht nie und flog einfach trotzdem weiter - oder flog sie einfach davon?


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An welche Kinder haben wir vielleicht gedacht?

Ist die Ente der Junge, der gut in Mathe ist, aber schlecht in Englisch? Er bekommt Übungsaufgaben von seinem Englischlehrer, während seine Klassenkameraden Mathe machen. Er ist bald nicht mehr hervorragend in Mathe, aber dafür einigermaßen passabel in Englisch.
Ist sie das Mädchen, welches keine Zeit hat, sich mit dem zu beschäftigen, was es am besten kann oder was es am meisten interessiert - um darin vielleicht völlig aufzugehen - weil es so viele Aufgaben erfüllen muss, die andere für wichtig erachten?

Ist das Eichhörnchen der Junge, welcher gezwungen wird, eine andere Lernstrategie zu verwenden, als die für ihn geeignetste, natürlichste oder dem unmöglich gemacht wird, selbst herauszufinden, wie er am besten Dinge lernt?
Ist es das Mädchen, welches schnell frustriert ist, weil es die Dinge nicht so macht, wie es erwartet wird, wie es "richtig" ist? Ist es der Junge, der letztendlich scheitert, weil er glaubt, er könne es nicht?

Ist der Adler der Junge, welcher zum Störenfried erklärt wird, weil er seinen "eigenen Stil" hat, die Dinge anzugehen? Obwohl er nichts "falsch" macht, wird seine Unangepasstheit als Stören wahrgenommen, für das er bestraft wird.

Wer erkennt den Bären nicht? Ist er das Mädchen, welches im Ferienlager großartig ist, sich außerhalb des Lehrplans voll entfaltet, aber sehr schlechte akademische Leistungen vollbringt. Ist es der Junge, der sich für Traktoren, Dinosaurier, riesige Legolandschaften und Kletterbäume interessiert und überhaupt nicht für Zahlen und Buchstaben? Oder ist es der- oder diejenige, die von einem anderen Ort und einer anderen Zeit träumt und gar nicht "anwesend" ist? (Ist es das Kind mit dem ADS, dem "Aufmerkamkeits-Defizit-Syndrom"?)

Ist der Hund das Kind, welches eigentlich einen ganz anderen Rhythmus in sich trägt, als den künstlich von außen vorgegebenen, aufgezwungenen, an den er sich anzupassen hat? Ist es der, dem es nicht gelingt, sich an diesen anzupassen - und der sich deshalb "falsch" vorkommen muss?

Ist das Zebra das übergewichtige Kind oder das sehr große Kind oder das sehr kleine Kind oder das sehr schüchterne Kind oder das sehr unsichere Kind oder das sehr langsame Kind, dessen Versagen in der Schule auf einem Gefühl von sozialer oder anderweitiger Unzulänglichkeit beruht, was leider nur wenige erkennen. Ist es das Mädchen, welches sich vor drei Tagen vom Dach der Turnhalle stürzte?

Ist das Känguruh der Junge, der aufgibt, anstatt ausdauernd durchzuhalten und sich beharrlich zu bemühen - ist er der Entmutigte, dessen Zukunft erlischt, weil er nicht geschätzt wurde?

Ist der Fisch der junge Mensch, welcher eine ganz besondere Bildung braucht und in einer regulären Schulklassenumgebung nicht strahlen kann? Ist er derjenige, der etwas anderes, als eine schulische Umgebung braucht, um sich zu entfalten - vielleicht eine unverschulte, reichhaltige, bunte, lebendige Umgebung, in der er sich bilden kann, wie es seiner Natur entspricht?

Ist die Schnecke der Junge, der "immer" langsamer ist als die anderen? Ist sie das Mädchen mit der "Entwicklungsverzögerung" und dem ständigen "Förderbedarf"?

Die Biene - oh, die Biene - ist sie das Kind, bei dem die Schule denkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt? Dem die Botschaft übermittelt wird, dass es nicht "richtig" ist, es vielleicht eine "Krankheit" hat oder eine "Störung", die irgendjemand in Ordnung bringen muss? 
Ist sie der junge Mensch, der dennoch und entgegen allen Normen oder Ansprüchen, denen er angeblich nicht gerecht werden soll, den Rückhalt seiner Eltern oder anderer Menschen hat, die ihn annehmen wie er ist und ihm beistehen, damit er seinen eigenen, ganz einzigartigen Weg gehen kann? Ist es der Mensch, der zu sich steht, die Antwort in sich selber sucht und sich aus sich selbst heraus bildet? 
Welchen Weg mag er gehen? Mag er, wie die Biene, die Gewissheit in sich tragen, dass er nur in Freiheit wirklich Mensch sein und sein Potenzial entfalten kann?

In meinem Vertrauen in alle Bienen weiß ich, dass sie von Natur aus gut sind und ganz genau wissen, was für sie gut ist und was nicht. Ich habe noch keine getroffen, die das in ihrem tiefsten Inneren nicht gewusst hätte.

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Eine sehr ähnliche Tierfabel findest Du hier: "Wenn die Ziege schwimmen lernt" - eine Geschichte von der Schule

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